«Es braucht jetzt Lohnerhöhungen» Interview mit Unia-Ökonomin Noémie Zurlinden
Wie sieht die Wirtschaftslage aktuell aus?
Noémie Zurlinden: «Nach einer schwierigen Zeit während den ersten Corona-Wellen befindet sich die wirtschaftliche Lage seit einigen Monaten auf Erholungskurs. Zudem sind die weiteren Aussichten positiv: Für dieses und nächstes Jahr wird ein BIP-Wachstum von je über drei Prozent prognostiziert und das BIP soll in der zweiten Hälfte dieses Jahres über das Vorkrisenniveau steigen. Diese Entwicklungen zeigen, dass Lohnerhöhungen möglich sind. Die Teuerung zieht auch wieder an: Nach einer negativen Teuerung im letzten Jahr bewegt sie sich jetzt wieder im positiven Bereich und wird voraussichtlich bis Ende Jahr auf 1 Prozent steigen. Um die Kaufkraft der Arbeitnehmenden zu erhalten, müssen die Löhne erhöht werden.»
Welche Branchen profitieren besonders vom Aufschwung? Gibt es auch solche, die während der Pandemie gute Geschäfte gemacht haben?
N.Z.: «Einige Branchen haben von den besonderen Bedingungen während der Corona-Krise profitiert. Ich denke etwa an den Lebensmittel-Detailhandel und insbesondere an den Online-Handel. Er ist regelrecht explodiert, was sich in Rekordumsätzen und einem Beschäftigungsanstieg in der Logistik gezeigt hat. Auch das Bauhauptgewerbe entwickelt sich gut, mit sehr positiven Wirtschaftsindikatoren. Das spiegelt sich auch im Arbeitsvolumen wider: Die Auftragsbücher sind voll. Das Gleiche gilt für das Gewerbe. In diesen Branchen kann die Pandemie nicht als Vorwand dienen, um Lohnerhöhungen zu verweigern.»
Warum sind Lohnerhöhungen gerade jetzt besonders wichtig?
N.Z.: «Die Arbeitnehmenden haben aufgrund von Kurzarbeit und erhöhter Arbeitslosigkeit unter Einkommenseinbussen gelitten oder waren am Arbeitsplatz gesundheitlichen Risiken ausgesetzt. Nach einem äusserst schwierigen Jahr für die Arbeitnehmenden sollen diese jetzt auch vom wirtschaftlichen Aufschwung profitieren.»
Gibt es weitere Gründe, welche für Lohnerhöhungen sprechen?
N.Z.: «Ein weiterer Grund ist die schwache Lohnentwicklung der letzten Jahre: Das Nominallohnwachstum war teilweise so tief, dass die Reallöhne aufgrund der positiven Teuerung sogar sanken. Zudem hinken die Löhne der Entwicklung der Arbeitsproduktivität hinterher.Die von den Arbeitnehmenden erwirtschaftete Wertschöpfung soll gerechter verteilt werden. Auch die Krankenkassenprämien sind in den letzten Jahren stärker gestiegen als die Löhne. Diese Entwicklung belastet vor allem Arbeitnehmende mit tiefen und mittleren Einkommen.»
Wie sind die Aussichten für die Zukunft?
N.Z. «Da der Verlauf der Pandemie schwer vorhersehbar ist, sind jegliche Prognosen mit Unsicherheit behaftet. Das vergangene Jahr hat jedoch gezeigt, dass der Staat in der Lage ist, die Schweizer Wirtschaft auch in einer äusserst schwierigen Zeit erfolgreich zu stützen. Dank Staatshilfe konnten sich die Unternehmen durch die Krise retten. Sie sollen jetzt die Arbeitnehmenden für die finanziellen, gesundheitlichen und psychischen Anstrengungen des letzten Jahres entschädigen. Dadurch kann auch die wirtschaftliche Erholung durch eine Stärkung der Nachfrage gestützt werden.»