Wird Ignazio Cassis zum Totengräber des Lohnschutzes und der Personenfreizügigikeit?
«Die Gewerkschaft Unia hatte zu den bilateralen Verträgen und zur Personenfreizügigkeit stets eine glasklare Position: Wir unterstützen die Personenfreizügigkeit unter einer zentralen Voraussetzung: Es gibt ein wirksames Instrumentarium um sicherzustellen, dass in der Schweiz Schweizer Löhne gelten. Die Personenfreizügigkeit und wirksame flankierende Massnahmen sind siamesische Zwillinge. Wenn die bilateralen Verträge zu flächendeckendem Lohndumping und einem Angriff auf die Lebensbedingungen aller Bewohnerinnen und Bewohner in der Schweiz – ganz unabhängig davon, welchen Pass sie haben – führen, dann werden wir diese Politik nicht mehr mittragen können.
Ausbau statt Abbau der flankierenden Massnahmen ist nötig
Wir hatten in den vergangenen Jahren intern immer wieder heftige und kontroverse Debatten. Vasco Pedrina, ehemaliger Co-Präsident der Unia, hat dies in seiner eben erschienenen Publikation «Von der Kontingentierungspolitik zur Personenfreizügigkeit – Gewerkschaftliche Migrationspolitik im Wettlauf gegen Diskriminierung und Lohndumping» eindrücklich zu Papier gebracht. Das Umfeld hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Der Druck auf die Löhne in der Schweiz ist gestiegen. Wir sind unzufrieden mit dem Stand der Flankierenden Massnahmen und fordern seit Jahren einen gezielten Ausbau: mehr Kompetenzen für die paritätischen Kommissionen, um bei klaren Hinweisen auf Lohndumping die Arbeit unterbrechen zu können, bis die notwendigen Unterlagen eingereicht und offene Fragen geklärt sind. Es braucht eine bessere Handhabe bei Kettenkonkursen und gegen marode Firmen. Zudem sind klarere Vorgaben im öffentlichen Beschaffungswesen nötig, so dass Subunternehmerketten, die Lohndumping begünstigen, unterbunden werden. Die öffentliche Hand soll effektiv nur noch Aufträge an Firmen vergeben, die sich an die Gesamtarbeitsverträge halten. Wir brauchen zudem mehr Gesamtarbeitsverträge mit Mindestlöhnen, und wir brauchen auch dringend eine Verbesserung des Kündigungs-Schutzes. Insbesondere auch für Mitarbeitende, die sich gegen Lohndumping wehren. Bisher sind wir mit unseren berechtigten Forderungen aufgelaufen, und das führt dazu, dass die Kritik, die flankierenden Massnahmen seien ungenügend, in unseren Reihen zunimmt.
Ohne 8-Tageregelung sind keine wirksamen Kontrollen möglich
Warum sind die 8-Tage-Regelung und die Kautionsregelung in der Praxis so wichtig, um Lohndumping zu verhindern? Bei Betrieben, die weniger als 90 Tage – also nur für eine kurze Zeit – in der Schweiz arbeiten, ist die Gefahr von Lohndumping besonders hoch. Zum Teil informieren sie sich ungenügend über die geltenden Lohnbestimmungen. Es ist aber auch offensichtlich, dass es sehr attraktiv ist, Schweizer Preise in Rechnung stellen zu können und selber tiefere ausländische Löhne zu zahlen. Die Folge dieses unlauteren Wettbewerbes ist, dass Schweizer Firmen, die eine andere Kostenstruktur haben, nicht mehr existieren können.
Darum ist die berechtigte Vorgabe, dass rund die Hälfte der Entsendebetriebe kontrolliert werden. Eine weitere Vorgabe ist, dass die Kontrollen risikobasiert zu erfolgen haben. Dies ist nur möglich, wenn erstens die Firmen, die in der Schweiz arbeiten, sich anmelden müssen. Und zweitens genügend Vorlauf für die Organisation der Kontrolle besteht. Die 8 Tage, die heute zur Verfügung stehen, sind sehr knapp bemessen. Die Meldungen müssen zuerst auf die Kantone und dann auf die einzelnen paritätischen Kommissionen triagiert werden. Hier haben wir oft schon das erste Problem: Die Meldungen sind ungenau, und es bedeutet einigen Aufwand, eine korrekte Zuweisung vornehmen zu können. Die paritätischen Kommissionen, die für die Kontrollen verantwortlich sind, müssen mit den Kontrollvereinen, die in der Regel für mehrere Branchen die Kontrollen vor Ort organisieren, die Arbeit koordinieren. Die Kontrollvereine wiederum organisieren im Anschluss konkret ihre Arbeit. Es ist objektiv gesehen ein komplexes System, an dem viele Akteure beteiligt sind. Ohne Meldepflicht, oder mit einer kürzeren Meldepflicht, sind wirksame Kontrollen schlicht nicht möglich.
Kautionspflicht schützt korrekte Firmen
Die Kautionsplicht ist ein notwendiges Instrument, um bei in- und ausländischen Firmen sicherzustellen, dass bei festgestellten Verfehlungen ein Haftungssubstrat besteht. Bei inländischen Firmen, die heute gegründet werden, morgen Konkurs anmelden und deren Inhaber übermorgen dann wieder eine Firma eröffnet, haben wir oft das Problem, dass die paritätischen Kommissionen ein aufwändiges Verfahren durchführen. Wenn die Firmen dann Konventionalstrafe, Kontrollkosten und vorenthaltene Leistungen bezahlen sollten, melden sie Konkurs an. Mit der Kautionspflicht stellen wir sicher, dass in einem solchen Fall zumindest ein minimales Haftungssubstrat besteht.
Wer sich gegen eine Kautionspflicht stellt, der schützt insbesondere marode Firmen, die Lohndumping betreiben. Alle anderen Firmen haben nichts zu befürchten und bekommen ihre Kaution auch zurückbezahlt, wenn sie nicht mehr in dieser Branche tätig sind. Es gibt keinen Grund, diese Regelung nicht auch für ausländische Firmen anzuwenden. Wir stehen teilweise vor dem Problem, dass selbst nach einem rechtskräftigen Entscheid die Forderungen nicht beglichen werden. Wenn die ausländische Firma inzwischen Konkurs angemeldet hat, ist es praktisch unmöglich, die Forderungen einzutreiben. Und selbst wenn die Firma noch existiert, ist es in der Praxis schwierig, in Ungarn, Polen oder in Deutschland die Firma zur Nachzahlung zu verpflichten. Es bleibt bei ausländischen Firmen dann einzig das Mittel der Dienstleistungssperre, das aber durch die Neugründung einer Firma mit praktisch identischem Namen umgangen werden kann. Darum sind Kautionen für in- und ausländische Firmen zentral. Es ist unverständlich, dass Bundesrat Cassis dieses Instrument zur Disposition stellen will. Er schützt damit in- und ausländische Firmen, die Lohndumping betreiben wollen. Und gefährdet ganz direkt korrekt handelnde Firmen aus dem In- und Ausland.
Bundesrat muss Position umgehend klären
Das Umfeld für korrekt handelnde Firmen aus dem In- und Ausland sowie für alle Arbeitnehmenden ist heute schon sehr schwierig. Da schlägt die Ankündigung von Bundesrat Ignazio Cassis, die flankierenden Massnahmen zur Disposition zu stellen, ein wie eine Bombe. Es war bisher völlig klar, dass die bisherigen flankierenden Massnahmen zum Schutz der Löhne unverhandelbar sind. Die Aussagen von Bundesrat Cassis stehen im Widerspruch zu sämtlichen Beschlüssen des Bundesrates. Es ist zu hoffen, dass der Bundesrat diesen Alleingang schleunigst korrigiert, der Schaden ist aber bereits vorhanden, der Schlamassel angerichtet.
Wenn der Bundesrat die bilateralen Verträge und die Personenfreizügigkeit weiterführen will, dann braucht es jetzt sehr schnell Klartext. Dies erwartet die Gewerkschaft Unia, dies erwarten die Arbeitnehmenden und auch die korrekt agierenden Firmen.»