Die Personalsituation in der Langzeitpflege verschärft sich laufend, immer mehr Pflegende steigen aus dem Beruf aus. Die Fachhochschule Südschweiz (SUPSI) ging gemeinsam mit der Gewerk-schaft Unia den Ursachen des Problems auf den Grund. In ihrer Studie stellten sie erstmals die Pflegenden in den Mittelpunkt der Forschung. In Gruppen diskutierten Mitarbeitende aus Alters- und Pflegeheimen, was für sie gute Pflege bedeutet und welche Voraussetzungen es dafür braucht.
Die Pflegenden, die an den Gruppendiskussionen teilgenommen haben, sind sich einig: Bezie-hungsarbeit ist das Fundament einer guten Pflege. Einerseits um die essenziellen Bedürfnisse der Bewohner:innen zu erfüllen, andererseits weil gegenseitiges Vertrauen und die Kenntnisse über eine:n Bewohner:in Voraussetzungen für eine gute Pflege sind. Eine Pflegende konstatierte in der Gruppendiskussion treffend: «Gute Pflege ist mehr als nur einen Körper am Leben zu erhalten!»
Durch das bestehende Finanzierungsregime wurde jedoch die Pflege als solches zunehmend rationiert und verdichtet: Einzelne pflegerische Handlungen wurden mit zu knapp bemessenen Zeitbudgets versehen, wodurch sich auch die Entschädigung durch Krankenkassen und öffentliche Hand reduzieren. «Aus Sicht der Teilnehmenden der Gruppendiskussionen ist die Pflegefinanzie-rung unzureichend. Das Problem wird durch die aktuellen Dokumentationssysteme und die Mes-sung der Pflegequalität noch verschärft. Dabei wird nicht ausreichend anerkannt, dass der soziale Aspekt und die Beziehungsarbeit ein essenzieller Teil von Pflege sind.», so Nicolas Pons-Vignon, Professor an der SUPSI.
Die Studie der SUPSI belegt: Die aus der industriellen Produktion abgeleitete Arbeitsorganisation, bei der Effizienz und Produktivitätssteigerung im Vordergrund steht, widerspricht fundamental der Logik der Pflege, wonach Pflegende das Richtige und das Beste tun sollen, um das Leben der Be-wohner:innen und Patient:innen zu verbessern. «Die Pflegenden erklärten, dass sie sich verpflich-tet fühlen, den Bewohner:innen zu helfen, und dass sie ein schlechtes Gewissen haben, wenn ihre Schicht endet, bevor sie eine in ihren Augen angemessene Pflege bieten konnten. In allen Grup-pen betonten die Teilnehmenden, dass "die Bewohner sich darauf verlassen, dass wir für sie da sind, und wir möchten sie nicht im Stich lassen."» so Pons-Vignon. Fehlt also die Zeit für Bezie-hungsarbeit und einen Vertrauensaufbau, widerspricht dies dem Berufsethos der Pflegenden und führt zu emotionaler und psychischer Erschöpfung. Die Pflegenden werden krank, steigen aus dem Beruf aus und der schon knappe Personalbestand sinkt weiter.
Gemäss Bundesamt für Statistik nimmt bis 2040 die Anzahl der über 80-jährigen um 88 Prozent zu. Derweil hält der Pflegeexodus an. Aufgrund der Unterfinanzierung der Langzeitpflege und -betreuung fehlt es nicht nur an Pflegeheimplätzen, sondern auch an bezahlbaren Angeboten für das dritte Lebensalter, wie betreutes Wohnen oder Alltagsunterstützung und Betreuung. Ändert sich nichts, werden zwangsläufig vermehrt die Angehörigen in die Bresche springen müssen. Dies hat negative Auswirkungen auf deren berufliche Situation (mehr Gratisarbeit, weniger Erwerbsarbeit) sowie auf ihre Gesundheit (Überforderung und Überlastung).
Kurzfristig müssen sich die Arbeitsbedingungen verbessern, damit die Berufsausstiegsrate sinkt. Es braucht mehr bezahlbare Angebote, um zu frühe Heimeintritte zu vermeiden. Im Mittelpunkt müssen eine gute Pflege und die Lebensqualität der Betagten stehen. Der demografische Wandel benötigt zwangsläufig mehr finanzielle Mittel. Diese sollten in den Ausbau und die Finanzierung der Angebote mit guten Arbeitsbedingungen investiert und die Kosten müssen gesamtgesell-schaftlich gerecht verteilt werden. Es braucht einen neuen Generationenvertrag – die Langzeitpflege und die Versorgungssicherheit für Menschen im Alter müssen als gesellschaftliche Herausforderung anerkannt und zu einer politischen Priorität gemacht werden.
Gute Pflege ist unauflösbar mit der Frage der Arbeitsorganisation und den Arbeitsbedingungen verknüpft. Dazu müssen die Pflegenden ernst genommen und an den Diskussionen um Arbeits-organisation und -bedingungen beteiligt werden! Auf gesellschaftlicher Ebene braucht es eine brei-te zivilgesellschaftliche Diskussion, die das Thema auf das politische Tapet bringen kann. Die Unia wird dazu ein «Manifest für gute Pflege» erarbeiten und im August eine Fachtagung gemeinsam mit weiteren Organisationen durchführen.