Achtung: Bilaterale Erfolgsgeschichte in Gefahr

Heute vor 25 Jahren, am 21. Juni 1999, unterzeichneten die Schweiz sowie die EU und ihre Mitgliedstaaten sieben sektorielle Abkommen, kurz die «Bilateralen Abkommen I». In seiner Botschaft zu den Abkommen zwei Tage danach kündete der Bundesrat «Begleitmassnahmen in Form separater Erlasse», die sogenannten «Flankierenden Massnahmen» an. Die Schweiz ist damit gut gefahren. Doch ob sie diesen Erfolgspfad weiter geht, ist ungewiss. Denn gewisse Kreise stellen wirksame Lohnschutzinstrumente und allgemeinverbindlich erklärte Gesamtarbeitsverträge (ave GAV) in Frage. Diese wichtigen Errungenschaften gilt es im Gegenteil zu verbessern. Jede Schwächung wäre für die Schweiz brandgefährlich.

Nach dem Scheitern des EWR-Beitritts Anfang der 1990er Jahre war die sehr deutliche Annahme der bilateralen Abkommen in der Volksabstimmung vom 21. Mai 2000 ein Befreiungsschlag für die Schweiz. Die Abkommen boten – neben handfesten wirtschaftlichen Vorteilen – auch eine politische Kooperationsperspektive. Sie verhinderten die von der nationalkonservativen Rechten angestrebte Selbstisolation unseres Landes.

Grosser Erfolg für die Arbeitnehmenden

Massgeblich zu diesem Abstimmungssieg trugen die Gewerkschaften bei. Insbesondere ihre Unterstützung für das Personenfreizügigkeitsabkommen war entscheidend. Die Personenfreizügigkeit brachte den Arbeitnehmenden massive Verbesserungen. Die Schweiz musste das menschenverachtenden Saisonnierstatut abschaffen, den Arbeitnehmenden aus den EU-Ländern in weiten Teilen gleiche Rechte gewähren und die fremdenpolizeilichen Kontrollen der Arbeitskräfte durch eine echte Kontrolle der Arbeitsbedingungen vor Ort ersetzen. Die Abschaffung des Saisonnierstatuts brachte zentrale Verbesserungen bei Arbeitsbedingungen, Sozialversicherung, Aufenthaltsregelungen und beim Recht auf das Zusammenleben mit der Familie.

Die Schweizer Gewerkschaften stehen auch heute noch für die Personenfreizügigkeit ein. Sie fordern im Rahmen der Verhandlungen mit der EU sogar deren sozialpolitische Vertiefung auf der Basis der Unionsbürgerrichtlinie. Entscheidend für die Weiterführung der bilateralen Erfolgsgeschichte sind aber die begleitenden Flankierenden Massnahmen (FlaM) für den Lohnschutz.

Flankierende Massnahmen verhindern Absturz der Löhne

Die im Oktober 1999 von der Bundesversammlung beschlossenen Flankierenden Massnahmen stärkten ab dem Inkrafttreten am 1. Juni 2004 die Mindestarbeitsbedingungen und Löhne in den Gesamtarbeitsverträgen sowie in kantonalen oder nationalen Normalarbeitsverträgen. Zudem gewährleisteten sie die angemessene Unterkunft und Verpflegung von entsandten Arbeitnehmenden, nahmen Generalunternehmer in die Pflicht, etablierten Meldepflichten sowie Kontroll- und Sanktionsrechte. Ausserdem erweiterten sie das Gesetz über die Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) von GAV.
Nur diese Flankierenden Massnahmen hielten das angesichts des grossen Lohngefälles zwischen der Schweiz und der EU drohende Lohndumping weitgehend unter Kontrolle. Sie verhinderten den Absturz des Schweizer Lohniveaus und sorgten so auch für die politische Akzeptanz der Bilateralen bei der Bevölkerung im Rahmen mehrerer Erweiterungsrunden.

Gefährliche «Vergesslichkeit» der Arbeitgeber

Der Lohnschutz ist auch heute, 25 Jahre nach den Bilateralen I, das zentrale Thema in den Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU. Denn die ständig steigende Mobilität, die wirtschaftliche Verflechtung über die Landesgrenzen hinaus, die zunehmende Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse z.B. durch Temporärarbeit und technologische Entwicklungen wie die Digitalisierung erhöhen den Druck auf die Löhne laufend. Die Lohnschutzmassnahmen müssten darum laufend aus- und nicht abgebaut werden.

Gefährlicher Versuch Gesamtarbeitsverträge zu schwächen

Doch die Errungenschaften von damals sind heute unter heftigem Beschuss. Der Angriff kommt nicht nur aus Kreisen der EU-Kommission, welche die Profitinteressen von EU-Firmen vor den Schutz von EU-Arbeitnehmenden in der Schweiz stellen und die hiesigen Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten schwächen und gar abschaffen möchten. Leider stellt auch ein Teil der Schweizer Arbeitgeberschaft und der bürgerlichen Parteien das Kontrollsystem oder sogar die allgemeinverbindlichen Gesamtarbeitsverträge zunehmend in Frage. Ihre zurzeit im Parlament laufende Kampagne gegen die Allgemeinverbindlichkeit der GAV ist ein Beispiel dafür.

Offenbar haben diese Kreise vergessen, was vor 25 Jahren noch die meisten Arbeitgeber verstanden haben: Die Schweiz kann das für sie vorteilhafte bilaterale Verhältnis nur halten, wenn die Rechte der Arbeitnehmenden gestärkt, der Arbeitsmarkt ausreichend reguliert und Arbeitnehmende aus der EU nicht diskriminiert werden. Denn Wildwest auf dem Arbeitsmarkt und Dumpinglöhne sind bei der Bevölkerung schlicht nicht «mehrheitsfähig» und werden die Schweiz letztlich in die Isolation treiben. Wer den Lohnschutz schwächen will, betreibt ein brandgefährliches Spiel.