Eintauchen in die Arbeit in einem Alters- und Pflegeheim
Sein Fazit fällt eindeutig positiv aus, sowohl aus beruflicher als auch aus menschlicher Sicht, erklärt Borelli in einem langen Interview mit unserer Zeitung Area auf Italienisch. Hier eine gekürzte Fassung auf Deutsch.
Sein Praktikum hat Enrico Borelli am Centro Sociale Onsernonese (CSO) absolviert, einem Alters- und Pflegeheim im Onsernonetal, das als eines der wildesten und authentischsten Täler des Tessins gilt.
Das CSO hat zwei Standorte in den Ortschaften Russo und Loco und hat aufgrund seiner Philosophie und seines starken Fokus auf die Pflegequalität eine gewisse Vorbildfunktion. Genau das ist für einen Gewerkschafter wie Enrico Borelli interessant, denn er arbeitet für das Pflege-Projekt der Unia zum Aufbau von Gewerkschaften im Pflegesektor, insbesondere in Alters- und Pflegeheimen.
Enrico Borelli, wie kam es zur Idee, ein Praktikum in einem Alters- und Pflegeheim zu machen und welches Fazit ziehst du aus dieser Erfahrung?
In meiner Tätigkeit als Gewerkschafter war mir die Präsenz am Arbeitsplatz schon immer sehr wichtig, um die Dynamik zu spüren und zu sehen, mit welchen Problemen die Arbeitnehmenden zu kämpfen haben.
Es war eine kurze, aber sehr intensive, bereichernde und spannende Erfahrung. Sie hat mir gezeigt, wie komplex es ist, ein Altersheim zu führen, aber insbesondere auch, welche herausragende Arbeit die Pflegenden täglich leisten. Sie erfordert einen grossen persönlichen Einsatz und totales Engagement.
Welche Aufgaben wurden dir in diesen beiden Praktikumstagen übertragen?
Ich habe primär alles um mich herum beobachtet. Ich konnte die Mitarbeitenden zu verschiedenen Tageszeiten begleiten und Patient:innen treffen, die mich mit einer rührenden Zuneigung empfingen, als wäre ich ein normaler Mitarbeiter.
Diese Momente haben mir bestätigt, wie wichtig es ist, ihnen zuzuhören, einen Dialog zu führen, ständig zu interagieren und alle Bewohner:innen wertzuschätzen, wenn man eine qualitativ hochstehende Betreuung gewährleisten will.
Diese Aspekte veranschaulichen die Philosophie des CSO: Jede:r einzelne Pflegende:r ist stets bestrebt, dass die Bewohner:innen so eigenständig wie möglich sein können, ihre Würde zu achten sowie die Qualität der Pflege in den Mittelpunkt zu stellen.
Welche Besonderheiten des CSO haben dich besonders beeindruckt?
Viele Aspekte haben mich positiv beeindruckt. Zum Beispiel, dass sich die Bewohner:innen im CSO wie zu Hause fühlen und wertgeschätzt werden (manche übernehmen sogar Aufgaben in der Bar oder in der Küche), was sich positiv auf ihre Lebensqualität auswirkt.
So konnte ich etwa in der Residenz in Loco beobachten, wie der Hund, der einen Tag pro Woche im Zentrum zu Gast ist, freudig begrüsst wurde. Und das ist nur eine von vielen originellen Initiativen, von denen die Bewohner:innen des CSO zweifellos profitieren, so auch die Katzen, die in die Residenz in Russo Einzug halten werden, oder die Aufenthalte am Meer im Sommer.
Fazit: Das CSO ist ein ganz besonderes, kleines Pflegeheim in einer Randregion. Glaubst du, dass dieses Modell auch in einem urbanen Umfeld funktionieren könnte?
Das Umfeld ist sicher wichtig, damit eine Institution so offen funktionieren kann und dass dieser Austausch mit der Umwelt und zwischen Jung und Alt möglich ist. Ich denke jedoch, dass der Ansatz, den das Heim wählt, entscheidend ist.
Es liegt auf der Hand, dass ein solcher Ansatz sehr hohe Anforderungen an das Personal stellt und ein hohes Mass an Sensibilität und das Teilen bestimmter Werte erfordert. Auf jeden Fall zeigt die Tatsache, dass das CSO so gut funktioniert, dass es selbst in einem so schwierigen Umfeld wie diesem möglich ist.
Die Erfahrung lässt sich also andernorts ebenfalls umsetzen, wenn man die Pflege als eine Aufgabe im Dienste der Gemeinschaft versteht und lernt, das Recht der älteren Menschen auf ein würdiges Leben als unveräusserlich zu betrachten. Das ist leider heute wegen der Dynamik, die den Betrieb von Alters- und Pflegeheimen bestimmt, oft nicht der Fall.
Unterscheidet sich die Situation generell in Alters- und Pflegeheimen in der Schweiz in diesem Punkt von derjenigen am CSO?
Die Situation ist überall unterschiedlich und wir stellen vielerorts grosse Probleme fest: Arbeitsbedingungen an der Grenze des Erträglichen und ein ständiger Personalmangel, der die Angestellten oft schon nach wenigen Jahren zum Berufsausstieg zwingt, fehlende Wertschätzung von Erfahrung und Kompetenzen, eine Top-down-Führung, ein rein wirtschaftlicher Ansatz und mangelnde Sozialkompetenzen auf Führungsebene.
Diese Probleme, die die Qualität der Pflege ernsthaft infrage stellen, sind bereichsübergreifend und immer die gleichen, ob in Pflegeheimen oder bei Spitex-Diensten.
Inwiefern glaubst du, dass du diese Praktikumserfahrung für deine Gewerkschaftsarbeit nutzen kannst?
Das Praktikum war eine ausgezeichnete Gelegenheit, um zu verstehen, dass man durch das Verfolgen einer bestimmten Philosophie sehr gute Arbeit leisten kann, auch wenn man gegen den Strom schwimmt. Insofern helfen uns diese Erkenntnisse auch bei der Studie, die die Unia in Zusammenarbeit mit der Fachhochschule Südschweiz (SUPSI) durchführt.
Dabei werden die Mitarbeitenden an der Front befragt, welche Massnahmen es braucht, damit in der Schweiz eine gute, qualitativ hochwertige, Pflege gewährleistet werden kann. Aus der Studie werden wir ein Manifest zum Thema gute Pflege entwickeln, mit dem die Gewerkschaftsbewegung hoffentlich dazu beitragen kann, die Organisation der Pflege neu auszurichten.
Im Mittelpunkt stehen dabei die Lebensqualität der Bewohner:innen und menschenwürdige Arbeitsbedingungen zur Gewährleistung einer guten Pflege. Es ist klar, dass dazu das System zur Finanzierung von Alters- und Pflegeheimen geändert und dass der gesamte Gesundheitssektor auf die Lebensqualität und das Wohlbefinden der Menschen und nicht auf Profit ausgerichtet sein muss.