Um mehr Transparenz über die Arbeitsbedingungen im Detailhandel zu erhalten und sie gezielt verbessern zu können, hat die Gewerkschaft Unia nach 2007 zum zweiten Mal die Nachhaltigkeits-Ratingagentur Inrate mit einer Benchmarking-Studie beauftragt. Diese vergleicht anhand von acht klar definierten und messbaren Kriterien die Arbeitsbedingungen von sechs grossen Detailhändlern im Food- und Nonfood-Bereich. Nebst den Löhnen und Arbeitszeiten wurden die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Aus- und Weiterbildung, Chancengleichheit, Sozialleistungen, Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz sowie die Sozialpartnerschaft (Vorhandensein eines GAV) untersucht.
Spitzenreiter Coop
Für eine Beteiligung am Benchmarking angefragt wurden 15 grosse Unternehmen, zugesagt haben deren sechs: Aldi, Coop, Lidl, H&M, Volg sowie ein grosser Schuhhändler. Die Resultate zeigen je nach Indikator teils beträchtliche Unterschiede. Insgesamt am besten schnitt Coop ab; der Grossverteiler punktet vor allem bei den Sozialleistungen, der Vereinbarkeit von Beruf und Familie (Unterstützung bei der Kinderbetreuung) sowie der Sozialpartnerschaft (GAV). Auf Platz 2 folgt Lidl, welcher höhere Löhne, aber klar schlechtere Sozialleistungen als Coop bietet. Im Mittelfeld liegen Aldi, Volg und, mit etwas Abstand, das Kleiderunternehmen H&M. Das Schlusslicht bildet der Schuhhändler.
Tiefe Löhne und geringe Familienfreundlichkeit
Laut Vania Alleva, Co-Präsidentin der Unia, hat sich seit der ersten Benchmarking-Studie einiges verändert, vor allem auch bei den (Mindest-) Löhnen: Die gewerkschaftlichen Kampagnen haben Früchte getragen. Alleva wies vor den Medien in Bern aber gleichzeitig darauf hin, dass der Detailhandel nach wie vor «eine Tieflohnbranche mit teils prekären Arbeitsbedingungen» sei.
Das Benchmarking 2014 zeigt insbesondere grosse Defizite bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Ausser bei Coop gibt es für die Beschäftigten bei der Betreuung ihrer Kinder keine Unterstützung. Laut Muriel Chenaux, Unia-Verantwortliche für den Detailhandel in der Westschweiz, widerspricht diese Passivität selbst den Empfehlungen des Arbeitgeberverbandes. «Gerade im Detailhandel mit seinen vielen weiblichen Beschäftigten, seiner 6-Tagewoche und den immer längeren Abendöffnungszeiten wären betriebliche Kinderbetreuungsangebote dringend notwendig», so die Gewerkschafterin. Längere Ladenöffnungszeiten führen immer häufiger zu zerstückelten Arbeitseinsätzen und langen Abendeinsätzen, was die Vereinbarkeit mit Familie und Freizeit erschwert.
Akuten Handlungsbedarf ortet Natalie Imboden, Leiterin Detailhandel bei der Unia, zudem bei der Aus- und Weiterbildung. Ausbildung und Berufserfahrung schlagen sich zu gering in den Löhnen nieder, und die Weiterbildung werde kaum gefördert. Für den Detailhandel als kunden- und qualitätsbezogene Branche seien die Mitarbeitenden aber «das A und O für den Erfolg», so Imboden. Sonst droht der Branche bald ein Fachkräftemangel.
Unia fordert endlich Verhandlungen für Branchen-GAV
Am Schlechtesten aber steht es beim Kriterium Sozialpartnerschaft, also der Frage, ob ein Unternehmen Hand bietet, um die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten durch einen Gesamtarbeitsvertrag (GAV) abzusichern. Von den sechs untersuchten Unternehmen haben nur zwei einen GAV (Coop und Lidl). Auch dies spiegelt die Lage in der gesamten Branche wieder. Unia-Co-Präsidentin Vania Alleva forderte deshalb die Firmen auf, «endlich Verhandlungen über einen Branchen-GAV aufzunehmen und die Arbeitsbedingungen substanziell zu verbessern.»
Der Detailhandel ist mit rund 320’000 Beschäftigten eine der grössten Branchen der Schweiz überhaupt. Die Unia ist mit rund 14‘000 Mitgliedern die stärkste Branchengewerkschaft.